Trink(un)sitten

 

 

Warum wird nun überall, wo wir Menschen gesellschaftlich zusammenkommen, ein Gift angeboten, das uns ausgerechnet um diesen Verstand und um diese Vernunft bringt?  

Der Widersinn des Trinkens  

Wenn ein Mann betrunken durch die Straßen läuft, sagt man verächtlich: „Das besoffene Schwein!“ Das ist eine Beleidigung – für das Schwein, denn das säuft ja nicht. Aber der Mensch, der betrunken ist, ist doch kein Mensch mehr. Er ist wie ein Geisteskranker, er benimmt sich ohne Verstand und menschliche Würde. Ein Geisteskranker kann nichts dafür, dass sich sein Geist verdüstert hat. Wir Gesunden haben aber Verstand und tun alles, um ihn loszuwerden. Und daraus machen wir eine gesellschaftliche Sitte – und einen Trinkzwang.  

Trinkanlässe  

Wie albern aber ist dieser Kult, den wir mit dem Götzen, dem Alkohol, treiben! Von nichts anderem als vom Alkohol ist bei so vielen Gelegenheiten die Rede. Jedes Ereignis wird mit Alkohol begossen, sei es, dass ein Kind geboren, sei es, dass die Großmutter gestorben ist. Die Fußballer: haben sie verloren, gehen sie saufen; haben sie gewonnen, saufen sie aber auch. Im Sommer trinken alle, weil es warm ist, im Winter wiederum den Schnaps, weil es kalt ist. Der eine hat die Flasche am Bett stehen und sagt, dann kann er besser einschlafen; der andere will wach bleiben und sich in Gesellschaft anregen lassen. Das widerspricht sich doch alles. Reißen Sie doch einmal dieser Trink(un)sitte die Maske herunter!

Und noch etwas anderes: wenn jemand eine Tasse Kaffee aufbrüht, ein Glas Milch oder Saft trinkt, gibt er nie einen Grund dafür, an. Aber wenn jemand Alkohol trinkt oder anbietet, gibt er sehr oft eine Erklärung ab, weshalb er es tut. Unbewusst haben diese Menschen anscheinend alle ein schlechtes Gewissen dabei. Und darauf ist es wohl auch zurückzuführen, dass mit der Trinksitte ein gewisser Zwang ausgeübt wird.  

Trinkzwang  

Dieser durch die Trinksitte ausgeübte Zwang ist das größte Übel. Man kann in einer Gesellschaft Kaffee ablehnen und Kuchen, eine Zigarette und auch ein Eisbein, das nimmt keiner übel; wenn man aber Alkohol ablehnt, ist man unhöflich: „das kannst du mir doch nicht antun – aber einen kannst du doch mittrinken – du bist ein Heini – du bist 'ne Pfeife – du traust dich nicht!“ (So die Männer untereinander.) Wenn jemand sagt: „Ich rauche nicht.“, dann sagt keiner: „Aber eine kannst du doch rauchen!“ Aber wenn einer meint: „Ich trinke nicht.“, dann geht ein großes Gerede los. Auf der einen Seite sprechen wir doch immer von Freiheit – wenn aber jemand Apfelsaft oder Kaffee trinken will, dann hört die Freiheit schon wieder auf: „Du kannst dich doch nicht ausschließen – ich muss das meinen Gästen vorsetzen.“ In welchem Gesetzbuch steht das eigentlich? Aber wie leicht ist man später dabei, den Stab über einen Menschen zu brechen, den man vielleicht selbst einmal auf diese Weise zum Trinken verführt hat. Keiner weiß bei seinem ersten Glas, wie er veranlagt ist. Diese Trinkunsitte, dieser Trinkzwang, beruht wiederum darauf, dass Alkohol neuen Durst macht. Wenn fünf Mann nach der Arbeit, am Feierabend, zusammensitzen und ein Glas Bier trinken wollen und einer eine Lage schmeißt’, dann müssen auch die anderen vier eine Lage ausgeben. Wiederum: In welchem Gesetzbuch steht das eigentlich? Alle haben fünf Glas getrunken und bleiben länger sitzen, als sie wollten, und richten vielleicht noch Unheil an. Die Männer können nicht tun, was sie wollen, wenn es um Alkohol geht. Wenn einer aber ein Kännchen Kaffee spendiert, so wird dieses eine Kännchen getrunken, alle sagen nur Dankeschön' und gehen nach Hause. Warum? Weil man fünf Kännchen Kaffee nicht hintereinander trinken kann. Bei einer Hochzeit, einer Geburtstagsfeier oder einem Jubiläum haben die Leute ein Rauschgift im Glas. „Das trinke ich auf dein Wohl, auf deine Gesundheit!“ Mit Kaffee oder Saft wird das nicht gemacht, weil man eben – wie gesagt – davon nicht so viel trinken kann. Nehme ich nicht lieber ein Kotelett oder ein Stück Kuchen auf die Gabel und sage: „Das esse ich auf dein Wohl!"? Ich überspitze absichtlich mit einem solchen Beispiel, um zu zeigen, wie widersinnig dieser Kult um Alkohol ist. Aber wer macht sich darum schon einmal Gedanken!  

Kinder und Alkohol  

In diese Trinksitte hinein erziehen wir auch schon unsere Kinder. Die sehen doch, wenn zu Hause Geburtstag gefeiert wird oder Onkel Otto da ist: immer steht Alkohol auf dem Tisch. Und wenn das Kind Saft bekommt, dann weiß es genau: ich habe nur Saft, wenn ich erst groß bin, dann darf ich aber auch Alkohol trinken. Die Kinder haben Weinflaschen für den Kaufmannsladen, Weingläser für die Puppenstube, Wagen mit Bierfässern. Die Parallele hierzu ist die Schokoladenzigarette. Man schenkt sie dem kleinen Jungen, amüsiert sich, wenn er dem Vater alles nachmacht; aber wenn er mit zwölf Jahren bei einer heimlichen echten Zigarette erwischt wird, reagiert man mit Empörung und Verbot. Es gibt 14- bis 15-jährige, die sind schon so abhängig vom Gift Nikotin, weil es ein Suchtgift ist, so süchtig, dass sie am Automaten stochern, weil ihnen das Taschen- oder Lehrlingsgeld nicht mehr ausreicht. Werden sie erwischt, stehen Polizei und Fürsorge ins Haus. Zwar ist man in Bezug auf Nikotin so weit, die vor einigen Jahren erlaubten Raucherzimmer für Schüler wieder abzuschaffen - in Bezug auf den Alkohol ist man offensichtlich noch nicht so weit, die Jugendlichen vor Schäden zu bewahren. Erfahrungsgemäß kommen hin und wieder Schüler angetrunken zum Unterricht. Oft genug verkauft der Kiosk neben der Schule nicht nur Kaugummi, Hefte und Eis, sondern auch Büchsenbier. Spätestens bei der Konfirmation bekommen die Kinder von den eigenen Eltern das erste Glas Wein: „Heute bist du erwachsen, heute darfst du ein Glas Wein trinken!“ - Was hat das Erwachsen-Sein mit einem Rauschgift zu tun? Wir geben einem Konfirmanden ja auch keine Viertel-Spritze Morphium, weil er erwachsen ist. Vergleichsweise sollte man die Gebräuche um den Alkohol ruhig einmal auf eine Linie mit den anderen Giften stellen, dann sieht man, was für ein Unrecht diesen jungen Menschen geschieht. Und nach ein paar Jahren ringen die Eltern vielleicht die Hände: „Was ist aus unserem Kind geworden!“ Alle haben nur mit einem Glas angefangen, aber keiner weiß, wie er veranlagt ist. Und dieses erste Glas schmeckt dem Konfirmanden eigentlich nicht einmal. Aber das lässt er sich nicht anmerken, er möchte ja erwachsen sein. So merkwürdig sind die Wertbegriffe, die wir mit dem Alkohol verbinden.

 
„Geschmack“ des Alkohols“ 

Setzt man einer Katze oder einem Hund Cognac vor, dann verkriecht sich das Tier. Tiere haben noch den Instinkt, dass dies Gift ist und verhalten sich danach. Auch wir Menschen haben diesen Instinkt, doch wir leben nicht mehr danach. An Bier- und Weingeschmack kann man sich vielleicht gewöhnen, an Schnaps gewöhnt sich keiner. Da kann einer zwanzig Jahre in seinem Leben getrunken haben, er schüttelt sich immer wieder einmal beim ersten Schnaps. Die Natur ist wach in uns und zeigt uns, was richtig ist. Beim zweiten, dritten Schnaps erst sagen die Leute, es schmeckt`, – es schmeckt eigentlich immer noch nicht, der Geschmack des Getränks hat sich ja nicht geändert, sondern die Geschmacksnerven sind betäubt. So schnell wirkt der Alkohol auf das Gehirn ein. Was dann ein Mensch in sich hineinkippt, dafür hat er kein Gefühl mehr. Es ist, als ob sie alle Sand und Wasser in die (menschliche) Maschine schütten und sich dann noch wundern, wenn diese nicht mehr läuft. _Wir wundern uns oft, wie lange sie läuft. Da hat es jedes Auto besser: Stundenlang können die Männer ihre Autos pflegen, da wird Öl gewechselt, da wird abgeschmiert. Für das Auto, für diese Maschine wird alles getan … Und wenn sie damit fertig sind, stecken sie sich eine Zigarette ins Gesicht – und abends wird getrunken. Das Auto hätte bei einer solchen Behandlung längst gestreikt.  

Quelle:Herta Tenter: Alkohol als Lebensproblem  

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